
- Veröffentlichung07.10.2025
- RegieTom Shoval
- ProduktionsländerIsrael
- Dauer74 Minuten
- GenreDokumentarfilm
- AltersfreigabeFSK 18
Vorstellungen





Filmkritik
Der Kibbuz Nir Oz in der nördlichen Negevwüste war am 7. Oktober 2023 die am schwersten vom Hamas-Terror betroffene israelische Gemeinde. Nach den Anschlägen war ein Viertel der Bewohner entweder tot oder entführt worden. Zu den Verschleppten gehörte auch der israelische Schauspieler David Cunio. In dem 2013 bei der Berlinale uraufgeführten Spielfilm „Youth“ war David Cunio gemeinsam mit seinem Zwillingsbruder Eitan in den Hauptrollen zu sehen gewesen. Der Regisseur von „Youth“, Tom Shoval, präsentiert nun mit „A Letter to David“ einen Dokumentarfilm und eine filmische Hommage an David Cunio, die zugleich eine Reflexion darüber ist, wie die Realität auf eine fiktive Filmerzählung nachträglich zurückwirkt. In einer frühen Szene von „A Letter to David“ sieht man Casting-Aufnahmen aus der Vorproduktionsphase des „Youth“-Projektes. David und Eitan stellen sich darin als „Brüder und beste Freunde“ vor.
Zwei Kilometer und doch Lichtjahre entfernt
Es sind ernste, aber noch unbeschwerte Szenen, die von der innige Verbindung und Kommunikation zwischen den Zwillingsbrüdern erzählen. Mehr als zehn Jahre später sagt der vom Schmerz gezeichnete Eitan in „A Letter to David“: „Du bist zwei Kilometer und doch Lichtjahre entfernt von hier.“
Am 7. Oktober 2023 wurden rund 250 Frauen, Kinder und Männer von Islamisten entführt, darunter David Cunio, seine Ehefrau Sharon Aloni-Cunio, die Töchter Yuli und Emma sowie Cunios jüngerer Bruder Ariel. Ehefrau und Töchter kamen Ende November 2023 während einer zwischen Israel und der Hamas vereinbarten Feuerpause frei, als israelische Geiseln und palästinensische Gefangene ausgetauscht wurden. David und Ariel Cunio blieben in Gefangenschaft – bis heute.
Im Februar 2025 erhielt Cunios Familie durch eine weitere freigelassene Geisel ein Lebenszeichen von David. Die Folgen des Terroranschlags und des daraus resultierenden Krieges im Gazastreifen, der zehntausende Tote zur Folge hatte, beschäftigen die Weltöffentlichkeit. Medial spiegelt sich in den USA und in Europa ein ausgeprägter Fokus auf das Leid der in Gaza vom Krieg betroffenen Palästinenser. Den 7. Oktober und seine Folgen für betroffene und zerstörte israelische Familien wird allzu gerne ausgeblendet. „A Letter to David“ ist ein sehr persönlicher Film, der auf die Familie Cunio und auf Tom Shovals Protagonisten David Cunio fokussiert. Zugleich ist er aber auch ein filmisches Zeugnis und ein Appell, die Entführten, die noch immer unter entsetzlichen Zuständen in den Tunneln von Gaza gefangen gehalten werden, nicht zu vergessen.
Ein Ort des gescheiterten Traums
Shoval kontrastiert Archivmaterial – Hinter-den-Kulissen-Aufnahmen, Casting-Szenen, „Making of“ und Privataufnahmen der Brüder – mit aktuellen Bildern aus dem zerstörten Kibbuz Nir Oz, wohin es Eitan Cunio immer wieder zieht, um die Vorgänge des für seine Familie so schrecklichen Tages zu begreifen. Wie durch ein Wunder überlebten Eitan, seine Ehefrau und seine Töchter den Brandanschlag auf ihr Haus in einem Schutzraum. Nir Oz, das die Utopie bereits im Namen zu tragen schien, wird für immer ein Ort des gescheiterten Traums sein. Jener sozialistische Traum einer anderen Gesellschaft, einer friedlichen Welt jenseits kapitalistischer Verwertungslogik, hatte einst Träumer aus der ganzen Welt angezogen, darunter auch die Eltern der Cunio-Brüder, die in den 1980er-Jahren aus Argentinien nach Israel emigriert waren.
Das Elternpaar sieht man in „A Letter to David“ im Jahr 2024 auf dem Balkon ihres neuen Heims in Ramat Gan, einer Betonstadt, so ganz anders als der idyllische Kibbuz. „Wir hatten eigentlich aufgehört zu rauchen, aber nach der Entführung unserer Söhne wieder angefangen“, entschuldigen sie sich. Sie wollen erneut aufhören, sobald ihre Söhne zurück sind. In diese Szenen über die Auswirkungen der Entführung auf Familie und Freunde mischt Shoval Aufnahmen des Spielfilms „Youth“, der von zwei Brüdern aus einer finanziell angeschlagenen Familie handelte, die ein Mädchen entführen, um Lösegeld zu erpressen. Die Brüder geraten dabei in eine Spirale aus Druck, Angst und moralischen Konflikten.
Ein von der Realität entführter Film
Durch die Entführungsthematik steht „Youth“ in einem geradezu unheimlichen Näheverhältnis zu den Ereignissen, welche die Darsteller in der Wirklichkeit heimsuchten. „Der Film hat sich verändert“, sagt Shoval, „er wurde von der Realität entführt.“ „A Letter to David“ ist ein bewusst konzipierter „filmischer Brief“ an David Cunio. Shoval kreiert so eine Form, die über klassische dokumentarische Chronologie hinausweist und als essayistische Struktur Reflexion, Brüche, Assoziationen zulässt. Grausame Bilder vom 7. Oktober bleiben dabei außen vor. Besonders kraftvoll ist der Film aber im Kontrast unschuldiger Alltagsszenen aus früheren Zeiten, denen Bilder des zerstörten Nir Oz gegenüberstehen.
Manche der Archivaufnahmen scheinen im Nachhinein sogar eine gespenstisch-prophetische Qualität zu besitzen. Die Aufnahmen zeigen einen utopischen Ort mit blühenden Gärten. Nir Oz ist aber auch in dieser Zeit bereits ein Ort „am Rande eines Vulkans“. Dieser scheint bisweilen im Hintergrund metaphorisch deutlich auf – in Form der Häuser-Silhouette des Gazastreifens. Irgendwo dort, nur ein paar Kilometer von ihrem Heimatort entfernt, befinden sich David und Ariel Cunio. „A Letter to David“ erinnert daran, das Schicksal der Geiseln nicht zu vergessen.